„Und? Kann er denn schon Sitz?“ - Was muss ein Familienhund wirklich können?

Veröffentlicht am 13. Februar 2024 um 14:19

Kennst du das? Ein kleiner Welpe zieht bei euch ein und es dauert nicht lange, bis Freunde, Familie, Nachbarn und Kollegen fragen: „Was kann er denn schon?“

Erwartungen und Verunsicherung bei neuen Hundebesitzern.

Neben den vielen Ratschlägen, Tipps und Meinungen, die frische Welpenbesitzer ungefragt und gefühlt von jedermann einfach über sich ergehen lassen müssen, nun auch noch diese Frage!

Ganz oft hört man durch die Blume, dass Menschen glauben, es sei einfacher, einen Welpen von einem Züchter zu erziehen als einen Tierschutzhund bei sich aufzunehmen.

So ein Welpe ist ja schließlich ein ungeschriebenes Blatt Papier und man hat alles „selbst in der Hand“, man kann ihn formen und erziehen wie ein Stück Knete – soweit die Meinung.

Ein Welpe bringt allerdings auch sein Köfferchen mit. Genetisch ist da viel im Gepäck: rassebedingte Eigenschaften beispielsweise, aber auch Persönlichkeitsmerkmale. Die Mutterhündin hat ebenfalls sehr großen Einfluss darauf, wie sich die Welpen später in verschiedenen Situationen verhalten werden, und auch die Zuchtstätte beeinflusst natürlich maßgeblich die Entwicklung der Welpen.

Werden sie schon früh an unterschiedlichste Menschen gewöhnt und sind sie anderen Tieren begegnet? Konnten sie Alltagsgeräusche eines normalen Haushaltes kennenlernen? Sind sie Verkehrslärm gewöhnt? Hatten sie ihren eigenen Napf? Konnten sie mit ihren Pfötchen verschiedene Untergründe auskundschaften, und vor allem: Wurde freundlich mit ihnen und ihrer Mutter umgegangen?

Besonders das genetische Köfferchen, welches der Hund erst nach der Welpenzeit so richtig auspackt, wird oft unterschätzt.

Beispielsweise lassen sich Jagdverhalten und Territorialverhalten nicht ausschalten. Man kann trainerisch entgegenwirken, um es in kontrollierbare Bahnen zu lenken – aber wegtrainieren lässt es sich nicht.

Training hat ehrlicherweise eben auch seine Grenzen. Hier muss man im Alltag oft diverse Managementmaßnahmen ergreifen, was bedeutet, dass man vorausschauend handelt, bestimmte Situationen meidet, Hilfsmittel wie Geschirr und Schleppleine verwendet, einen Gartenzaun baut, etc. Da können Bemerkungen wie „Habt ihr ihm dies und jenes denn immer noch nicht abgewöhnt?!“ oft ganz schön verunsichern, verärgern, und je nachdem, von wem der Spruch kommt, auch sehr verletzen.

Jeder Hund ist individuell. Oberflächliche und schnelle Tipps sind daher selten hilfreich und manchmal sogar kontraproduktiv.

Ratschläge, wie z.B. „Also, wir haben das ja von Anfang an so und so gemacht und hatten damit NIE Probleme!“ mögen für den einen Hund funktionieren, aber beim anderen Hund überhaupt nicht zum Ziel führen.

Hinzu kommen all die weichgezeichneten Filmchen und Beiträge auf Social Media, wo alles immer perfekt und harmonisch abläuft. Man muss sich vor Augen halten, dass dies absolut nicht die Realität abbildet. Man versteht das mit dem Kopf, aber trotzdem hat man die Bilder und Filme gesehen und kriegt sie nicht so richtig aus dem Unterbewusstsein.

Bitte lass dich nicht verrückt machen! Das echte Leben sieht anders aus. Jeder hat mal schlechte Tage und bei keinem läuft es immer nur super. Gerade die Bilder und Filme mit Hunden sollte man sich sehr genau anschauen. Geht dort jemand ganz lässig und selbstbewusst mit fünf Hunden auf jeder Seite spazieren und scheint alles im Griff zu haben? Und du fragst dich, warum es bei dir mit der Leinenführigkeit mit EINEM Hund einfach nicht so richtig klappen will?

Schau dir die Hunde bitte genau an und analysiere, ob sie glücklich aussehen oder eventuell total gestresst sind und Meide- und Beschwichtigungsverhalten zeigen. Möchtest du einen Hund, der aus Angst vor Strafe pariert oder soll dein Hund dir vertrauen?

Gerade solche Themen wie Leinenführigkeit brauchen Zeit und viele Übungseinheiten. Du brauchst hierfür keine Rudelführer-Energie oder die richtige Ausstrahlung. Bei der Leinenführigkeit geht es um Technik, Geduld und am Ball bleiben.

Lass dich also nicht verunsichern durch Aussagen wie „Du strahlst nicht die richtige Energie aus!“, „Dein Hund sieht dich nicht als Chef!“ oder „Bei euch stimmt die Bindung nicht, sonst würde der nicht so ziehen!“ Sollte es wirklich an der Energie liegen, dass die Leine nicht locker durchhängt oder Hunde nicht sofort auf den Rückruf reagieren, dann müsste man als Hundebesitzer nur einen Yogakurs besuchen und meditieren. So einfach ist das aber leider nicht. Für Hunde ist es sehr unnatürlich, im Menschentempo neben uns an einer Leine zu gehen. Ihr Grundtempo ist viel schneller und sie müssen erstmal langsam lernen, sich anzupassen und auf eine lockere Leine zu achten.


Die Übung Sitz im Welpentraining

Vielen Welpenbesitzern ist es sehr wichtig, dass ihr Hund früh lernt, Sitz auf Signal zu machen.

Wo das herkommt und warum das so wichtig ist? Man kann nur vermuten, dass es an dem Druck von außen liegt.

 

Wenn du auf die Frage „Und? Was kann er denn schon?“ antworten würdest:

  • Mein Hund kann mit meiner Hilfe zur Ruhe kommen und schafft es auch immer besser, sich selbst zu regulieren.
  • Wenn mein Hund draußen unsicher ist, hat er gelernt, erstmal zu mir zu schauen. Entweder gehen wir dann zusammen in einem Bogen weiter oder er signalisiert mir, dass er neugierig ist und wir inspizieren beispielsweise die flatternde Tüte auf der Wiese gemeinsam.
  • Er weiß, dass ich ihn in keine Situation zwinge. Wenn er Meideverhalten zeigt, erkenne ich das und er braucht nicht vehementer zu werden.
  • Mein Hund hat gelernt, dass ich ihm Social Support gebe bei wilden Hundebegegnungen oder in Situationen, die ihn überfordern.
  • Er bleibt cool, wenn Fahrräder an ihm vorbeidüsen, wenn Kinder schreien oder wenn wir zusammen im Auto unterwegs sind.
  • Mein Hund kann sich schon eine halbe Stunde alleine im Nebenzimmer aufhalten, ohne Aufmerksamkeit zu bekommen.
  • Mein Hund lässt sich sein Geschirr gerne anziehen, er lässt sich bürsten und bleibt ruhig stehen, wenn ich ihm die Pfötchen saubermache.
  • Er hat gelernt, dass ich ihm nicht einfach etwas wegnehme. Er braucht seinen Knochen nicht verteidigen und er hat gelernt, dass er in Ruhe essen kann.
  • Mein Hund weiß, dass ich ihm Vorhersehbarkeit biete. Er wird nicht einfach plötzlich hochgehoben, sondern ich kündige es vorher an. Bei einem Richtungswechsel sage ich ihm vorher kurz Bescheid, damit er die faire Chance bekommt, aus seiner Hundewelt aus Gerüchen und Eindrücken aufzutauchen.
  • Er hat gelernt, dass er in seinem Körbchen ungestört ist und er sich dort ruhig und sicher zurückziehen kann.
  • Mein Hund erfährt eine sichere Bindung und er weiß, dass ich eine verlässliche Bezugsperson bin.

Wie würden deine Nachbarn, Freunde oder Bekannte reagieren?

Sie haben vielleicht erwartet, dass dein Hund Sitz, Platz und Bleib machen kann.

Das sind typische Übungen, die man traditionell vom Hundeplatz so kennt und die ja auch im Alltag mit Hund oft praktisch und hilfreich sein können.

Das Ding ist aber, dass immer höhere Anforderungen an unsere Hunde gestellt werden. Anforderungen, die man nicht durch eine einstudierte Freifolge auf dem Hundeplatz erfüllen kann. Es ist wie zur Selbstverständlichkeit geworden, dass Hunde es schaffen, mitten in unserer Gesellschaft zu leben und uns überall zu begleiten. Ob im Restaurant, im Urlaub, im Büro, als Therapie- oder Schulhund, mitten im Großstadt-Dschungel und in überfüllten, öffentlichen Verkehrsmitteln. Sie besuchen den Stadt-Park und das Naherholungsgebiet mit vielen anderen Artgenossen, Familien mit Kindern, älteren Menschen mit Rollator, Skatern, Joggern, Nordic-Walkern und vieles mehr.

Menschen erwarten, dass Hunde sich ruhig, belastbar, ausgeglichen, verspielt, verschmust, kinderlieb, stressresistent und angepasst verhalten. Und mit dieser Erwartung steigt automatisch auch der Druck auf die Hundehalter.

Wenn du auf der Hundewiese von anderen Besitzern hörst, was ihre Hunde schon alles können oder wie weit sie schon im Training sind, mache dir bitte klar: Du und dein Hund, ihr seid ein einzigartiges Team mit euren ganz eigenen Herausforderungen im Alltag und mit ganz eigenen Anforderungen ans Training. Was für dich im Zusammenleben mit deinem Hund wichtig ist, bestimmst du.

Es ist manchmal schwierig, selbstbewusst seinen Weg zu gehen. Wenn du mit deiner Jagdnase gefühlt als Einzige mit der Schleppleine durch den Wald spazierst und du euch mit anderen Mensch-Hund-Teams vergleichst, mach dir bitte bewusst, dass du es bei diesem bestimmten Thema einfach nicht leicht hast.

Dafür haben die anderen Hundebesitzer auch ihre Themen!

Kein Lebewesen ist perfekt, und das ist doch auch gut so! 😊


Manchmal braucht es einen Perspektivwechsel.


Furry Fellows Perspektivwechsel

Wenn Hunde unerwünschtes Verhalten zeigen, hört man schnell die Aussage „Der wurde nicht erzogen!“ Aber was verstehen wir eigentlich unter Erziehung? Ist Erziehung nicht immer sehr abhängig von den Normen und Werten, die zu einem Zeitpunkt in einem bestimmten Kulturkreis gelten? In Japan ist es unhöflich, ein Geschenk sofort auszupacken. Wenn du in dieses Fettnäpfchen stapfst, wirst du dort eventuell als nicht gut erzogen wahrgenommen.

Selbst innerhalb der Familie ist man sich oft nicht einig. Für dich ist es vielleicht ganz normal, dass dein Hund aufs Sofa springen darf, deine Eltern hingegen würden ihn eventuell als unerzogen beschreiben.

Wir sollten realisieren, dass die meisten unserer menschlichen Benimmregeln für Hunde in ihrer Welt und in ihrem Wertesystem keinen Sinn ergeben. Wenn wir ihnen die Regeln unserer Menschenwelt beibringen, heißt das also nicht, dass sie die Bedeutung dahinter verstehen. Beispielsweise ist es für junge Hunde normal, dass sie zur Begrüßung an den Lefzen der anderen Hunde lecken. Um dies bei uns Menschen hinzukriegen, muss man als Hund nun mal hochspringen. Dass das Anspringen mit dreckigen Pfötchen bei den Zweibeinern als „unhöflich“ gilt, können Hunde nicht erfassen. Vielleicht sollten wir es deshalb auch gar nicht Erziehung nennen, sondern „Tricktraining für den Alltag in der Menschenwelt“ 😉.

Es ist eine willkürliche Definitionssache, dass wir das Fußlaufen zur Erziehung und das Pflötchengeben zum Tricktraining zählen.


Mit den wachsenden Anforderungen an unsere Familienhunde ändert sich auch das Hundetraining.

Unsere Hunde leben mitten in unserem Menschen-Alltag und müssen mit den unterschiedlichsten Herausforderungen zurechtkommen. Neben den klassischen „Gehorsamkeitsübungen“ ist es für unsere Familienhunde also genauso wichtig, dass sie eine gewisse Resilienz aufbauen. Hierbei können wir ihnen helfen, indem wir auf ihre ganz individuellen Bedürfnisse eingehen, ungestörte Schlaf- und Erholungszeiten ermöglichen, Vorhersehbarkeit und Selbstwirksamkeit bieten, auf körperliches und emotionales Wohlbefinden achten und Bewältigungsstrategien trainieren.

Besonders den Bedürfnissen unserer Hunde sollte viel mehr Beachtung geschenkt werden. Wenn man sagt, dass man auf die Bedürfnisse seines Hundes eingeht, klingt das erstmal nach einem ethischen, moralischen und nach dem Tierwohl ausgerichteten Prinzip.

Hinter dem Ansatz des bedürfnisorientierten Umgangs steckt aber viel mehr als „nur“ eine ethische Einstellung, es geht auch darum, Problemverhalten vorzubeugen!

Problemverhalten entsteht nicht durch zu wenig Gehorsam, sondern durch das Ignorieren von Bedürfnissen.

Nehmen wir als Beispiel die körpersprachlichen Signale, mit denen Hunde zeigen, dass sie mehr Abstand wünschen, weil sie sich bedrängt fühlen. Werden diese Signale ignoriert, kann der Hund – je nach bisherigen Lernerfahrungen – beginnen, deutlicher und auch vehementer zu kommunizieren.

Solche Verhaltensweisen wie Wegschauen, Kopf abwenden, die Ohren zurücklegen oder sich über die Lefzen lecken, drücken das Bedürfnis nach Individualdistanz und Sicherheit aus. Wird dieses Bedürfnis nicht erfüllt, verliert das Verhalten seine Funktion, was zur Entstehung von Reaktionen führen kann, die wir als problematisch empfinden, wie etwa Aggression.

Hier findest du ein kostenloses Infoblatt zur Eskalationsleiter von Hunden:

Furry Fellows Handout Eskalationsleiter